Effiziente Pharmaproduktion mit KI und modularer Bauweise
Die chemische Produktion von Medikamenten bleibt ein Grundpfeiler moderner Medizin. Um den wachsenden Bedarf zu decken und Lieferengpässe zu vermeiden, investiert Bayer in einen Neubau für die Arzneimittelproduktion in Leverkusen. „Solida 1“ soll aber auch neue Maßstäbe bei Automatisierung und Digitalisierung setzen – und dank KI sogar selbstständig aus den Prozessen lernen.
Wenn zum Richtfest der Kanzler anreist, weiß man, dass ein Bau besonders ist. Im Fall der neuen Fabrik von Bayer reicht für diese Erkenntnis aber auch ein Blick auf die Kosten: 275 Mio. Euro lässt sich der Pharmariese die neue Anlage „Solida 1“ zur Arzneimittelproduktion in Leverkusen kosten. 2026, rund fünf Jahre nach Baubeginn, soll sie in Betrieb gehen.
Mit dem Neubau schafft Bayer zunächst einmal neue Kapazitäten für die Produktion von Medikamenten zur Behandlung von Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Diese entstehen gezielt in Europa, denn die Stresstests für Lieferketten der letzten Jahre haben gezeigt, wie wichtig in Zeiten von Deglobalisierungstendenzen die regionale Verfügbarkeit geworden ist. Solida 1 ist deshalb auch nur eines von mehreren Projekten, die zu einem milliardenschweren Investitionsprogramm von Bayer zur Stärkung des Produktionsnetzwerks für Feststoff-Arzneimittel gehören.
Eine Fabrik, die lernt
Stärken will der Pharmariese aber auch seine Innovationskraft. Dazu soll Solida 1 maßgeblich beitragen: Als „lernende Fabrik“ soll die Anlage nach Verlautbarungen von Bayer und dem Projektpartner Siemens „Maßstäbe für Effizienz, Qualität, Liefersicherheit und Nachhaltigkeit“ setzen. Künstliche Intelligenz ist dabei heute selbstverständlich nicht mehr wegzudenken. Über alle Produktionsschritte hinweg soll KI Datenströme analysieren und daraus Handlungsempfehlungen ableiten.
Diese Datenströme werden in Leverkusen auch aus Informationen fließen, die besonders in der Batchproduktion wertvoll sind. Prozessautomation, die auf der Software Sipat von Siemens basiert, überwacht durch die automatisierte Entnahme von Proben und deren Analyse zahlreiche Prozessschritte schon während der Produktion in Echtzeit. Das bedeutet: Keine verlorenen Batches mehr – stattdessen kann die Qualität während der Herstellung optimiert werden.
Maßgeblich zur Prozessautomatisierung von Solida 1 beigetragen hat auch Glatt. Als Systemintegrator war der Anlagenbauer und Engineering-Dienstleister schon in die Konzeptphase eingebunden. In der Bauphase war Glatt für die Lieferung, Montage und Inbetriebnahme von Anlagen verantwortlich und auch für die Prozessausrüstungen anderer Anbieter.

Auch abseits der Primärprozesse spielen Automatisierung und Digitalisierung eine wichtige Rolle beim Streben nach möglichst effizienten Prozessen – besonders bei der Gebäudeleittechnik. Neben „Basics“ wie der permanenten Überwachung und Dokumentation des Raumklimas ermöglicht sie, die Produktionsumgebung je nach herzustellendem Medikament flexibel anzupassen. Neben zahlreichen Automatisierungskomponenten steuert die zentrale Gebäudemanagementplattform dafür auch Lüftungsanlagen, Wärme-, Kälte- und Dampftechnik. Mit Analysedaten von Sensoren und Datenpunkten werden Unregelmäßigkeiten erkannt, auf deren Basis das System Handlungsempfehlungen ableiten kann.
„Die durchgängige Automatisierung der Prozesse wird die Flexibilität der Arzneimittelproduktion in Leverkusen künftig enorm erhöhen“, ist sich Stephan Drouvé von Siemens sicher. Automatisierung und Digitalisierung sieht er als wichtigen Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit der industriellen Produktion in Deutschland.
Zukunftsfähig durch Modularisierung
Bei Bayer ist man außer auf den hohen Automatisierungs- und Digitalisierungsgrad der Anlage auch stolz auf das hohe Maß an Modularisierung. Solida 1 umfasst
- ein zentrales Modul für die vollautomatisierte, roboterunterstützte Produktion von Tabletten im Batch- oder in semi-kontinuierlichen Verfahren
- ein Erschließungsmodul für Material, Personal sowie Medienversorgung und -entsorgung
- ein Modul mit zentralem Medienanschluss, Werkstatt und Ersatzteilen
- ein Warehouse mit Hochregallager und separaten Einwaagebereichen
- ein Servicemodul mit Laboren, zentralen Umkleiden, Büro- und Besprechungsräumen
Der Clou: Alle Module sind durch Schnittstellen verbunden, die es ermöglichen, ein Modul um- oder auszubauen, während die übrigen in Betrieb bleiben. Das erhöht die Flexibilität enorm. Auch Erweiterungen wird Bayer durch diese Bau- und Produktionsweise künftig wesentlich einfacher planen und umsetzen können.
Gleichzeitig verzichtet der Pharmakonzern in der Produktion auf sonst übliche Wände: Das sogenannte Ball-Room-Konzept steht für eine flexible und offene Produktionsumgebung, in der mobile, modulare Produktionsanlagen innerhalb eines großen Reinraums eingesetzt werden. Es unterscheidet sich von traditionellen Reinraumkonzepten, bei denen einzelne Produktionsschritte in separaten, fest installierten Reinräumen stattfinden.
Energieeffizient und ressourcenschonend
Bayer und die Projektpartner haben von Anfang an darauf Wert gelegt, dass die Produktion in Solida 1 nicht nur effizient, sondern auch nachhaltig abläuft. Die sensorgestützte Regelung der Lüftungs-, Wärme-, Kälte- und Dampftechnik soll sicherstellen, dass immer nur so viel Energie und Ressourcen verbraucht werden wie nötig. Entstehende Abwärme wird genutzt, der Energiebedarf der Anlage wird voraussichtlich auch im Regelbetrieb weitgehend durch eine Geothermie-Anlage gedeckt werden. Das soll den CO2-Fußabdruck von Solida 1 um bis 70 Prozent gegenüber anderen Produktionsanlagen senken.
„Solida 1 wird dazu beitragen, das Leben von Patientinnen und Patienten nachhaltig zu verbessern“, prophezeit Jürgen Wiedemann, einer der beiden Projektleiter bei Bayer. So könnten etwa die Ergebnisse von wissenschaftlicher Forschung schneller in Produkte überführt werden. Rund 100 Mitarbeiter werden dafür auf einer Bruttogrundfläche von 15.000 Quadratmetern künftig produzieren und forschen.