Künstliche Intelligenz in der Industrie: Auf leisen Sohlen – aber mit Macht!
03.11.2024 Automatisierung & Digitalisierung Artikel

Künstliche Intelligenz in der Industrie: Auf leisen Sohlen – aber mit Macht!

Wenn Künstliche Intelligenz E-Mails schreibt, ist das nett, der Nutzen aber begrenzt. Für Prozessindustrien wie Chemie, Pharma und Energie sowie den Maschinen- und Anlagenbau liegt das Potenzial an ganz anderen Stellen. Doch welche Anwendungen können Ingenieure und Techniker tatsächlich erwarten? Und wie realistisch sind die Prognosen?

Werkshalle einer Prozessanlage mit verschiedenen KI-Elementen Das Nutzenpotenzial von Künstlicher Intelligenz in der Industrie wird derzeit intensiv diskutiert.
Hype Cycle Emerging Technologies von Gartner Der Gartner Hype Cycle zeigt die verschiedenen Phasen, die neue Technologien durchlaufen. Generative KI hat demnach im August 2024 den Gipfel der überzogenen Erwartungen überschritten.

Der Gipfel des Hypes wirkt bis heute nach: Bis zu 40 Prozent der Arbeitszeit – und damit der Arbeitsplätze – in kognitiven Berufen könnten künftig durch KI ersetzt werden. Das World Economic Forum kam im Frühjahr 2023 zu diesem Ergebnis und löste damit Schockwellen in der Wirtschaft aus. Doch wer die Hype Cycle-Mechanismen kennt, weiß: Neue Technologien folgen in der öffentlichen Wahrnehmung einem immer gleichen Ablauf. Ein Thema wird so lange gehypt, bis es den Gipfel der überzogenen Erwartungen erreicht – danach folgt der tiefe Abstieg in das Tal der Ernüchterung. Diesen konstatierten die Erfinder des Hype Cycles – das amerikanische Gartner Institute – für Generative KI im August 2024.

Doch das Thema ist keinesfalls vom Tisch – denn obwohl noch keine realistische Einschätzung des KI-Einsatzes die Öffentlichkeit erreicht hat, ist längst klar: Das Potenzial ist riesig. Die meisten Unternehmen prüfen inzwischen, ob und wie KI Aufgaben übernehmen kann, bevor sie neue Mitarbeiter einstellen. Auf dem OPEX-Forum des Beratungsunternehmens Conor Troy Consulting im Oktober 2024 diskutierten Teilnehmer Beispiele, in denen Unternehmen schon heute vor jeder Stellenbesetzung prüfen, inwiefern der Arbeitsplatz durch den Einsatz von KI entfallen kann. Die Einsparungen für den Produktionssektor könnten laut Marktforschern in die Hunderttausende, teils Millionen pro Jahr reichen.

Der Einsatz von KI in der Industrie ist nicht neu. Seit Jahren nutzen Unternehmen KI, um Daten aus Produktions- und Lieferketten zu analysieren, Prozesse zu optimieren und die Qualität zu sichern. Die jüngsten Fortschritte in der generativen KI eröffnen jedoch völlig neue Anwendungsdimensionen, z. B. als Chatbots und virtuelle Assistenten, die Kundensupport und Produktdesign unterstützen.

Ingenieur vor einem Zeichentisch und einem KI-Assistenten Künstliche Intelligenz wird künftig Ingenieure bei der Anlagenplanung unterstützen.

Anwendungen in der Prozessindustrie: Fortschritte bei Chemie und Pharma

Die Prozessindustrien versprechen sich vom KI-Einsatz vor allem Fortschritte beim Anlagenbetrieb. Assistenzsysteme könnten künftig Anlagenfahrer bei Entscheidungen zur optimalen Fahrweise von Prozessen unterstützen, indem sie historische Daten auswerten und daraus lernen – und gleichzeitig das Erfahrungswissen konservieren. Diese Daten könnten auch für vorausschauende Wartung genutzt werden, um ungeplante Stillstände zu vermeiden. Doch kann KI dann nicht gleich die komplette Anlage steuern? Diese Hoffnung erteilen Spezialisten bislang eine Absage: Im Forschungsprojekt KEEN untersuchten Industrieunternehmen und Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland über drei Jahre hinweg das technische und wirtschaftliche Potenzial von KI in der Prozessindustrie entlang des Produktlebenszyklus – und stellten fest: Die Datenqualität reicht dafür in den sicherheitsrelevanten Prozessen – beispielsweise der Chemie – noch nicht aus. Das Projekt zeigte aber auch, dass KI-Methoden durchaus Mehrwerte bieten: Vor allem können sie Anlagenbetreiber per Echtzeit-Analyse bei Entscheidungen unterstützen und Engineering-Aufgaben effizienter machen.

In der Pharmaindustrie schlummern weitere Potenziale: Die Marktforscher von Gartner schätzen, dass bereits 2025 mehr als 30 Prozent aller neuen Arzneimittelwirkstoffe mit generativen KI-Techniken entdeckt werden. So nutzt beispielsweise der Pharmariese AstraZeneca schon heute KI in großem Maße, um die prädiktive Modellierung, die physikalischen und chemischen Eigenschaften pharmazeutischer Wirkstoffe zu optimieren und die Leistung der formulierten Produkte während der Herstellung vorherzusagen. Das Unternehmen hat es bereits geschafft, die Entwicklungsvorlaufzeiten um 50 Prozent zu verkürzen und den Einsatz von pharmazeutischen Wirkstoffen in Experimenten um 75 Prozent zu reduzieren. In der Fertigung simulieren bei AstraZeneca KI-gestützte digitale Zwillinge die Beziehung zwischen den Eigenschaften der Arzneimittelsubstanz, den Prozessbedingungen und der Produktqualität, um die Betriebsbedingungen zu optimieren.

Potenziale im Anlagenbau: Unterstützung bei Planung soll Fachkräftemangel mildern

Auch im Anlagenbau zeigt sich KI zunehmend als wertvoller Produktivitätsfaktor. Der durch die demografische Entwicklung sich verschärfende Fachkräftemangel könnte abgemildert werden, wenn Assistenzsysteme Ingenieure bei der Angebotserstellung, der Planung und in der Betriebsphase entlasten. Auch die Automatisierung von Abläufen wie der Kollisionskontrolle in 3D-Modellen, dem Erstellen von Montagesequenzen mit Terminabfolge sowie dem automatischen Erfassen von Kosten auf der Baustelle zählen zu potenziellen Anwendungsszenarien, über die der Anlagenbauer Standartkessel Baumgarte auf dem Kongress Engineering Summit im Oktober 2024 berichtete: KI-gestützte Systeme können in der Planungsphase genutzt werden, um automatisch erste Entwürfe für 3D-Aufstellungspläne zu erstellen und mögliche Kollisionen („Clashes“) frühzeitig zu erkennen. Darüber hinaus können KI-Tools die Statikberechnung und Aufstellungsplanung iterativ verbessern, um die Lastabtragung zu optimieren.

Engineeringsoftware-Anbieter wie Aucotec implementieren dafür bereits Assistenzsysteme basierend auf Large Language Modellen, indem zentrale Datenbanken nach Zusammenhängen durchforstet werden. Auch „Nicht-intelligente“ Zeichnungen wie R&I-Schemata werden per Künstlicher Intelligenz in ein lesbares Datenformat migriert, das nicht nur das eingesetzte Equipment bestehender Anlagen erkennt, sondern auch die verfahrenstechnischen Zusammenhänge.

KI im Maschinenbau: Qualitätskontrolle, Produktionsoptimierung und KI-Automatisierung

Im Maschinenbau ist KI mittlerweile eine feste Größe in Qualitätssicherung und Produktionssteuerung. Unternehmen wie Bosch setzen generative KI für schnellere Produktionsprozesse ein, während KI-basierte Bilderkennung in der optischen Inspektion die Fehlerquote reduziert und die Produktionsqualität steigert. Auch die Unternehmen Schäffler und Siemens entwickeln bereits generative KI für Produktionsmaschinen. Sie nutzen dabei drei wesentliche Entwicklungen in der KI-Automatisierung:

  • Prompt-basiertes Programmieren für industrielle Co-Piloten:Durch Sprachmodelle wie ChatGPT können Mitarbeiter natürliche Sprachbefehle nutzen, um Maschinen zu steuern und die Kommunikation zu verbessern. Diese Funktion revolutioniert die Interaktion zwischen Mensch und Maschine und definiert die industrielle Automatisierung neu.
  • Neue Programmierparadigmen in der Robotik: Autonome Roboter passen Bewegungen selbstständig an (fehlbasierte Programmierung) oder optimieren diese für bestimmte Aufgaben (fähigkeitsbasierte Programmierung). Dies verbessert die Effizienz und Anpassungsfähigkeit der Roboter erheblich.
  • Synthetisches Training und digitale Zwillinge: Digitale Zwillinge schaffen virtuelle Testumgebungen für Roboter. Ingenieure können so Szenarien simulieren, Probleme frühzeitig erkennen und Hardwarekosten sparen, da Tests in virtuellen Welten erfolgen.

Vom Tal der Tränen zum Plateau der Produktivität

Der Übergang zu einer KI-gestützten Industrie ist in vollem Gange, aber er wird von Herausforderungen begleitet. Viele Unternehmen stehen vor der Aufgabe, ihre Datenqualität zu verbessern, da die Anforderungen für KI-Anwendungen eine hohe Konsistenz und Zugänglichkeit erfordern. Zudem ist spezifisches Know-how für die Integration von KI notwendig, das in zahlreichen Betrieben noch fehlt. Die kontinuierliche Weiterbildung der Belegschaft und die engere Zusammenarbeit von IT und Betriebstechnik schaffen jedoch die Grundlage für datenzentrierte und KI-basierte Anwendungen in der Produktion. So könnte KI in der Industrie schon bald die nächste Stufe im Hype Cycle erreichen – und aus dem Tal der Ernüchterung das Plateau der Produktivität erklimmen.

 

Autor

Armin Scheuermann

Armin Scheuermann

Chemieingenieur und freier Fachjournalist