Pharmastandort Deutschland im Aufwind – Sorgen in der Schweiz
In der europäischen Pharmaindustrie bahnt sich ein Wettstreit der Standorte an. Deutschland zieht internationale Pharmaunternehmen derzeit geradezu magnetisch an. Das sorgt in der öffentlichen Wahrnehmung in der Schweiz für Sorgenfalten.
Der Alarmruf blieb auch in Deutschland nicht ungehört: Im September titelte das Online-Portal des Schweizer Radio und Fernsehens SRF „Deutschland droht der Schweiz den Rang in der Pharma abzulaufen“. Hintergrund waren Berichte über Großinvestitionen internationaler Pharmakonzerne nördlich der Eidgenossenschaft. Denn die deutsche Pharmabranche erlebt gerade einen regelrechten Ansturm an Investitionen. Die Pharmariesen Eli Lilly aus den USA, Roche aus der Schweiz und Sanofi aus Frankreich haben in den letzten Jahren Milliarden in deutsche Standorte gesteckt. Eli Lilly baut in Alzey, Rheinland-Pfalz, für 2,3 Milliarden Euro eine hochmoderne Produktionsstätte für Diabetesmedikamente. Dadurch entstehen bis zu 1.000 neue Arbeitsplätze.
Doch damit nicht genug: Auch andere Unternehmen wie Boehringer Ingelheim und Sanofi haben bereits eine Vielzahl weiterer Projekte in Deutschland angekündigt. Boehringer Ingelheim erweitert seine Produktionsanlagen in Rheinland-Pfalz und errichtet ein neues Biotechnologiezentrum in Biberach für 350 Millionen Euro. Im bayerischen Pfaffenhofen investiert der japanische Pharmakonzern Daiichi Sankyo eine Milliarde Euro in den Bau von Laboren für Antikörper-Wirkstoff-Konjugate. Roche baut zudem ein Entwicklungszentrum für Gentherapie in Penzberg und investiert auch in die Expansion seiner Produktionsstätten. Bayer wird in Berlin eine neue Produktionsanlage im Wert von 130 Millionen Euro bauen. Biontech, ein führendes Unternehmen in der Impfstoffentwicklung, investiert 40 Millionen Euro in den Ausbau der Marburger Produktionsstätte und forscht in Mainz an neuartigen Krebstherapien. Diese Projekte zeigen: Die deutsche Pharmaindustrie wird für internationale Investoren immer interessanter.
Deutschland ist der ideale Standort für diese Projekte
Was macht den Standort so attraktiv? Deutschland ist der ideale Standort für solche Projekte. Lilly hat sich aus gutem Grund für Deutschland entschieden. Die Infrastruktur, die politische Lage und das Angebot an Fachkräften waren ausschlaggebende Faktoren bei der Standortwahl. Vor allem in Sachen Forschung und Entwicklung hat Deutschland einiges zu bieten: Die deutsche Forschungslandschaft genießt weltweit einen exzellenten Ruf und ist hervorragend vernetzt – mit zahlreichen Universitäten, Instituten und Unternehmen. Deutschland gibt außerdem richtig viel Geld für Forschung und Entwicklung aus und führt bei den Patentanmeldungen im Gesundheitsbereich in ganz Europa.
Die staatliche Förderung der Großinvestitionen wird durch den deutschen Arbeitsmarkt zusätzlich katalysiert. Hochqualifizierte Fachkräfte aus den Bereichen Biotechnologie, Pharmazie und Chemie sind in den immer stärker spezialisierten High-Tech-Fabriken ein entscheidender Standortvorteil. Dazu kommt ein reger Austausch zwischen den Pharma-Herstellern und Anbietern von Pharma-Equipment. Und was zuletzt in der öffentlichen Wahrnehmung kaum durchgedrungen ist: Deutschland bietet immer noch ein stabiles regulatorisches Umfeld für Unternehmen, die wie die Pharmaindustrie mit komplexen Zulassungsverfahren konfrontiert sind.
Die Konzernlenker nennen auch die zentrale Lage und den Infrastrukturausbau als Argumente für die Investitionen. Dank der geografischen Lage im Herzen Europas ist die Distribution im europäischen Binnenmarkt für deutsche Unternehmen einfach und das Netzwerk aus feinchemischer Vorproduktion, Logistik und Transport ist perfekt.
Die Pharmastrategie kommt gut an – und auch die Politik bekennt sich klar zum Pharmastandort. Im Rahmen der aktuellen nationalen Pharmastrategie werden gezielt Investitionen gefördert und die Bedingungen für klinische Studien verbessert. Das im Frühjahr 2024 beschlossene Medizinforschungsgesetz macht die Zulassung klinischer Studien einfacher und schneller. Bürokratische Hürden werden abgebaut. Dadurch wird der Zugang zur medizinischen Forschung erheblich erleichtert. Darüber hinaus wird die Effizienz in der Zulassung erhöht. Die deutsche Regierung arbeitet enger mit der Industrie zusammen und nutzt auch Daten aus der Praxis, um Medikamente besser bewerten zu können. Dadurch können die Unternehmen neue Präparate schneller auf den Markt bringen. Zudem werden digitale Lösungen in der Arzneimittelversorgung und der Ausbau der elektronischen Gesundheitsakte vorangetreiben, um die datenbasierte Forschung und Versorgung zu beschleunigen. Und nicht zuletzt sorgen auch Abschreibungsmöglichkeiten für dringend benötigte Investitionsanreize.
Weckruf für die Schweiz
Die jüngsten Investitionsankündigungen im nördlichen Nachbarland sind für die Schweiz ein Weckruf. Denn die pharmazeutische Industrie ist für den Wirtschaftsstandort Schweiz von zentraler Bedeutung. Schließlich stammen rund 36 % der gesamten Warenexporte aus der Pharmaindustrie. Damit stützt die Pharmaindustrie die Exportstärke der Schweiz maßgeblich. 2022 erreichte ihr direkter und indirekter Beitrag zur Bruttowertschöpfung rund 74,5 Milliarden Schweizer Franken, was etwa 9,8 Prozent des Schweizer Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht. Jeder Arbeitsplatz in der Pharmaindustrie sichert zudem vier weitere Arbeitsplätze in anderen Sektoren. Die Industrie trägt somit maßgeblich zur Sicherung von insgesamt etwa 300.000 Arbeitsplätzen bei.
Auch der Schweizer Markt ist innovationsfreundlich und Unternehmen schätzen die Flexibilität und Qualität des Arbeitsmarktes. Dennoch befürchtet der Pharmaverband Interpharma, dass die Schweiz bei der Digitalisierung und den bürokratischen Prozessen den Anschluss verliert. Die Zulassung neuer Medikamente dauert teilweise länger als in Deutschland. Das ist eine zusätzliche Belastung für die Unternehmen. Die Schweiz bietet exzellente Rahmenbedingungen für Pharmaforscher. Allerdings dominiert hier projektbasierte Forschung, und es werden eher kleine Forschungseinheiten gefördert. In Deutschland profitieren große Projekte und Start-ups von ausgeprägten Netzwerken.
Globaler Wettbewerb statt Kleinstaaterei!
Wie sieht die Zukunft aus? Wird es eine Standortkonkurrenz geben, oder können wir gemeinsam stärker sein? Ein verstärkter Wettbewerb zwischen Deutschland und der Schweiz könnte sowohl Chancen als auch Herausforderungen für die europäische Pharmaindustrie mit sich bringen. Während deutsche Investitionen und die optimierte Pharmastrategie internationale Pharmafirmen anlocken, stellt sich die Frage, wie die Schweiz reagieren wird. Der Wettbewerb um Fachkräfte und neue Ideen könnten dazu führen, dass beide Länder ihre Bedingungen weiter verbessern und voneinander lernen.
Trotz aller Selbstkritik nationaler Pharmaverbände sind die jüngsten Großinvestitionen für die Global Player auch ein starkes Signal im Hinblick auf die Attraktivität des Pharmaumfelds in Zentraleuropa. Die seit jeher enge Zusammenarbeit der chemisch-pharmazeutischen Industrie in Deutschland und der Schweiz muss deshalb weiter gestärkt werden. Nur so können wir der starken Konkurrenz aus den USA und Asien Paroli bieten. Denn der deutsche Pharmaverband vfa stellt fest, dass sich die globalen Machtverhältnisse zunehmend zu Deutschlands Ungunsten verschieben. Europa verliert "im Wettbewerb um Investitionen gegen die USA und China immer stärker an Boden", so der vfa.