Deindustrialisierung oder Re-Industrialisierung? Herausforderungen und Chancen für die europäische Industrie
Die europäische Industrie steht unter Druck: Steigende Energiekosten, Bürokratie, Fachkräftemangel und geopolitische Unsicherheiten bedrohen die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts. Dennoch eröffnen die aktuellen Paradigmenwechsel in der globalen Wirtschaft neue Perspektiven – und Europa verfügt über mehr Stärken, als gemeinhin angenommen wird.
Der Paukenschlag aus Köln hallte bis nach Brüssel und Berlin: Ende Januar 2025 ließ Matthias Zachert, CEO des Chemiekonzerns Lanxess, mit seiner Ankündigung aufhorchen, künftig vorrangig in den USA statt in Deutschland zu investieren. Zachert klagte über ein „EU-Bürokratiemonster“, das Innovationen bremse und Investitionen abschrecke. Der Fall Lanxess steht beispielhaft für die Herausforderungen, mit denen die europäische Industrie zu kämpfen hat.
In den letzten Jahren hat die europäische Industrie erheblich an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Laut Schätzungen des europäischen Gewerkschafts-Dachverbands EUTC gingen zwischen 2019 und 2023 in der EU rund 853.500 Arbeitsplätze in der Industrie verloren. Besonders stark betroffen sind energieintensive Sektoren wie die Chemie-, Metall- und Papierindustrie. Der Trend zur Deindustrialisierung zeigt sich besonders in Deutschland, Polen, Tschechien und Rumänien.
Ein zentraler Belastungsfaktor sind die stark gestiegenen Energiepreise. Europäische Unternehmen zahlen mittlerweile bis zu viermal höhere Gaspreise als ihre Konkurrenten in den USA. Gleichzeitig nimmt die regulatorische Belastung kontinuierlich zu. Vorschriften wie die CSRD-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung oder die EU-Lieferkettenrichtlinie binden personelle und finanzielle Ressourcen – insbesondere im Mittelstand.
Zusätzlich sorgen geopolitische Spannungen wie der Ukraine-Konflikt, die Handelskonflikte zwischen den USA und China sowie unsichere Lieferketten für Verunsicherung. In Deutschland wird die Situation durch den Fachkräftemangel verschärft: Im Oktober 2024 fehlten laut Institut der deutschen Wirtschaft (IW) bereits über 530.000 qualifizierte Fachkräfte. Diese Zahl wird in den kommenden Jahren voraussichtlich weiter steigen: Das Beratungsunternehmen PwC schätzt, dass deutschen Unternehmen im Jahr 2030 ca. 3,5 Millionen Arbeitskräfte fehlen werden. Genug Gründe also, um Unternehmern die Sorgenfalten in die Stirn zu treiben.
Europa als Wirtschaftsraum – darum ist die EU so wichtig für die Industrie
Angesichts täglich neuer schlechter Nachrichten – beispielsweise aus der deutschen Automobilindustrie – stellt sich die Frage: Ist Europa als Industriestandort also dem Untergang geweiht? Weit gefehlt! Ein paar wenige Zahlen verdeutlichen, weshalb der Abgesang zu früh erklingt. Denn nach wie vor ist Europa mit rund 450 Millionen Konsumenten und einem BIP von 16 Billionen Euro einer der bedeutendsten Wirtschafts- und Industriestandorte der Welt – und damit ein einzigartiger Absatzmarkt für Industriekunden. Die Bevölkerungszahl Europas ist etwa vergleichbar mit der gesamten USMCA-Zone (USA + Kanada + Mexiko). Die USA alleine haben ein höheres BIP als die gesamte EU. Rechnet man Kanada und Mexiko hinzu (USMCA), ist Nordamerika insgesamt der größte Wirtschaftsraum. In Sachen BIP pro Kopf liegt die EU vor China – allerdings hinter den USA.
Zu den Stärken Europas gehört vor allem die Marktintegration: Innerhalb der EU gelten einheitliche Regeln (CE-Kennzeichnung, Produkthaftung, Zollfreiheit), was die EU zu einem besonders gut integrierten Binnenmarkt macht. In Nordamerika gibt es dagegen viele technische Handelsbarrieren, z. B. unterschiedliche Standards in den USA und Mexiko und die Zoll-Politik der Trump-Administration verschärft die Handelshemmnisse. Dazu kommt die enorme Kaufkraft – diese ist pro Kopf betrachtet in der EU deutlich höher als in China – was die EU für Premiumprodukte besonders attraktiv macht. Der nordamerikanische Markt hat zwar höhere Einkommen, aber auch höhere soziale und regionale Unterschiede.
Für die Industrie sind es drei Faktoren, die für den europäischen Markt sprechen:
- Der bereits genannte Binnenmarkt, der den freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr garantiert. Produzierte Güter können grenzüberschreitend ohne Zölle und mit harmonisierten Standards verkauft werden. Unternehmen profitieren von europaweiten Lieferketten, in denen Komponenten dort gefertigt werden, wo es wirtschaftlich am sinnvollsten ist. Und: Europa ist nicht nur Absatzmarkt, sondern auch integrierter Produktionsraum, etwa durch „just-in-time“-Lieferungen innerhalb der EU.
- Europa bietet eine einzigartige Dichte an industriellen Clustern – vom Maschinenbau in Deutschland über die Chemieindustrie in Belgien bis zu Hightech und Elektronik in den nordischen Ländern. Diese Cluster bilden starke Ökosysteme, in denen Unternehmen eng mit Zulieferern, Hochschulen, Start-ups und Forschungseinrichtungen kooperieren.
- Durch regulatorische Initiativen wie den Green Deal, den Clean Industrial Deal und die Kreislaufwirtschaftsstrategie setzt die EU globale Standards. Wer in Europa produziert, erfüllt höchste Umwelt- und Sozialstandards – das wird zunehmend zum Wettbewerbsvorteil, weil diese Standards auch weltweit an Bedeutung gewinnen.
Gleichzeitig investiert Europa überdurchschnittlich viel in Forschung & Entwicklung. Die EU gibt rund 2,2% des BIP für Forschung aus – in Schlüsseltechnologien wie Wasserstoff, KI oder Batterietechnologie gehört Europa zur Weltspitze. In vielen Zukunftstechnologien gehört Europa zu den weltweiten Vorreitern – insbesondere in Bereichen wie Kreislaufwirtschaft, Wasserstofftechnologie und grüner Chemie.

Brain Gain statt Brain Drain? Neue Chancen durch die US-Politik
Ein transatlantischer Blick wirft interessante Perspektiven auf: Während Unternehmen in den letzten Jahren verstärkt in die USA investierten, könnte sich dieser Trend im Bereich der Forschung umkehren. Die restriktive Wissenschafts- und Einwanderungspolitik der Trump-Administration hat US-Forscher zunehmend verunsichert. Laut der Max-Planck-Gesellschaft verzeichnet Deutschland bereits einen Anstieg von Bewerbungen aus den USA. Europa könnte sich somit als sicherer Hafen für internationale Spitzenforschung etablieren – ein bedeutender Impuls für die Innovationskraft des Kontinents.
Doch der Erhalt der europäischen Industriebasis ist kein Selbstläufer. In seinem 2024 vorgestellten Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit Europas hat Ex-EU-Kommissionspräsident Mario Draghi die Herausforderungen für Europa klar benannt und eine umfassende Strategie vorgestellt, mit der der drohenden Deindustrialisierung entgegengewirkt werden kann. Kernpunkte sind die Dekarbonisierung der Industrie, umfangreiche Investitionen in Clean Tech und die Vollendung des EU-Binnenmarkts. Im Februar 2025 hat die EU-Kommission nun nachgelegt: Der neue „Clean Industrial Deal“ setzt auf eine Kombination aus günstigeren Energiekosten, Förderung von Innovationen und Sicherung strategischer Rohstoffe. Ein zentrales Element ist der „Affordable Energy Action Plan“, der darauf abzielt, die Energiekosten für energieintensive Industrien zu senken. Gleichzeitig sollen finanzielle Mittel gezielt in die Umgestaltung energieintensiver Branchen fließen – beispielsweise in umweltfreundliche Verfahren für die Stahl- und Chemieproduktion.
Und auch unabhängig von den Anstrengungen der Politik setzen Industrieunternehmen auf den Standort Europa – wie eine neue Studie des Wirtschaftsprüfungsunternehmens KPMG im Auftrag des Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft zeigt. Demnach betrachten 55 Prozent der befragten Unternehmen die östliche EU-Region als aufstrebenden Investitionsstandort. Länder wie Polen, Rumänien und Tschechien profitieren von vergleichsweise niedrigen Arbeitskosten, einer soliden industriellen Infrastruktur und einer aktiveren industriepolitischen Haltung ihrer Regierungen. Deutsche Unternehmen verlagern daher vermehrt Produktionskapazitäten in diese Region. Mittel- und Osteuropa entwickelt sich zu einem „verlängerten Werkbankraum“ Europas mit zunehmender strategischer Bedeutung.
Fazit: Optimismus statt Abgesang
Ja, die europäische Industrie steht unter Druck. Doch wer nur die Risiken sieht, verkennt die enormen Potenziale: Europa bleibt ein Technologievorreiter, glänzt mit Spitzenforschung und zieht internationale Talente an. Der neue Clean Industrial Deal zeigt, dass Brüssel endlich mehr tut als nur zu regulieren – es wird aktiv gestaltet. Der Boom in Mittel- und Osteuropa bringt eine industrielle Dynamik, die Europa neuen Schwung geben kann.
Deindustrialisierung ist kein Schicksal, sondern eine Frage der richtigen Entscheidungen. Setzt Europa auf schlankere Bürokratie, bezahlbare Energie und gezielte Innovationsförderung, könnte der Kontinent gestärkt aus der aktuellen Krise hervorgehen – als globaler Vorreiter für eine nachhaltige, widerstandsfähige und innovative Industrie.