Wie steht es um den deutschen Anlagenbau?
03.06.2024 Machinery Artikel

Wie steht es um den deutschen Anlagenbau?

Fragt man vier Anlagenbauunternehmen nach ihrer wirtschaftlichen Entwicklung erhält man derzeit vier verschiedene Antworten. Auf der einen Seite meldete der Großanlagenbau im März Rekordzahlen und die Erwartung weiter steigender Umsätze, auf der anderen Seite klagen viele Maschinen– und Anlagenbauer über einen sinkenden Auftragseingang und rechnen kaum mit Besserung. Wer hat also Recht? Die Antwort ist einfach, die Begründung dagegen deutlich schwieriger.

Schweißer arbeitet in einer Halle an einem großen Bauteil

Jahres- und Quartalswechsel bieten stets die Gelegenheit, Bilanz zu ziehen. Und so resümierten die in der VDMA Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau zusammengeschlossenen Unternehmen im April das abgelaufene Jahr und warteten mit einer faustdicken Überraschung auf: Trotz Russland-Schock in 2022 ist es der Branche gelungen, verloren gegangenes Geschäft in 2023 mehr als zu kompensieren. Mit 24,3 Milliarden Euro bilanzierten die AGAB-Mitglieder einen langjährigen Höchststand im Auftragseingang – ein Plus von knapp 16 Prozent gegenüber 2022. Und damit nicht genug: In einem Umfeld, indem landauf und landab die Gefahr einer deutschen De-Industrialisierung heraufbeschworen wird, vermeldete der Großanlagenbau ein Auftragsplus um stattliche 45 Prozent: Aus der deutschen Industrie gingen Bestellungen in Höhe von 9,6 Milliarden ein. Und auch für 2024 sind viele AGAB-Mitglieder optimistisch. Also: alles gut?

Nicht ganz. Denn die Jubelrufe des Großanlagenbaus werden vom Wehklagen des Maschinenbaus und der durchwachsenen Stimmung mittelständischer Anlagenbauer konterkariert. Für den gesamten Maschinen– und Anlagenbau in 2023 hatte der VDMA für 2023 einen um satte zwölf Prozent niedrigeren Auftragseingang bilanziert. Und auch das erste Quartal 2024 sah trübe aus: Minus 13 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal. Wer hat also Recht? Beide. Zeit für eine differenzierte Betrachtung!

Licht und Schatten in Chemie- und Pharmaindustrie

Zunächst lohnt sich ein Blick auf die Abnehmerbranchen. Mit einem Investitionsvolumen von jährlich rund 18 Milliarden Euro ist die deutsche Chemieindustrie einer der wichtigen Auftraggeber für den Anlagenbau. Die Hälfte davon wird von den deutschen Chemieunternehmen auch im Heimatmarkt Deutschland investiert. Und hier vermeldet der Branchenverband VCI seit 2022 rückläufige Investitionen und begründet dies mit hohen Standort-Kosten und einer sich verschlechternden Ertragslage. Doch die deutsche Chemie ist international ein Sonderfall. Denn wie kaum einer Wettbewerbsnation macht der Branche hierzulande der Wegfall des billigen russischen Pipeline-Gases als Rohstoff und Energieträger zu schaffen. Global wächst die Branche – alleine in den USA hat sich das Auftragsvolumen im Chemieanlagenbau in 2023 verdreifacht. Damit bleibt die Chemie ein attraktiver Kunde für Anlagenbau-Unternehmen – wenn diese global ausgerichtet sind.

Aber auch die VCI-Zahlen müssen noch weiter differenziert werden. Denn der Verband bilanziert die chemisch-pharmazeutische Industrie insgesamt. Doch zwischen der Lage von Basis-Chemieherstellern und der von spezialisierten Pharmaunternehmen liegen Welten – was auch die in jüngster Zeit massiv gestiegene Investitionsbereitschaft internationaler Pharmaunternehmen am Standort Deutschland belegt. Beispiele gefällig? Das Pharmaunternehmen Lilly legte im April im pfälzischen Alzey den Grundstein für eine 2,3 Milliarden Euro teure neue Fabrik. Daiichi-Sankyo realisiert aktuell im bayrischen Pfaffenhofen ein Milliardenprojekt, Boehringer Ingelheim baut in Biberach für 350 Mio. Euro. Gute Nachrichten für den auf Pharma-Projekte spezialisierten Maschinen– und Anlagenbau.

Energietransformation bleibt Wachstumsmarkt

War der Bau von Kohle- und Gaskraftwerken bis vor einem Jahrzehnt noch einer der wichtigsten Märkte für den deutschen Anlagenbau, hat sich die Situation längst grundlegend geändert. Unsicherheiten in der künftigen Ausrichtung der Energieversorgung haben lange für Investitionszurückhaltung gesorgt. Die durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zuletzt massiv forcierte Energiewende hat sich die Situation gedreht: 2023 wurden in Deutschland knapp 37 Milliarden Euro in Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien investiert. Und weil Strom aus Photovoltaik und Wind nicht durchgängig zur Verfügung stehen, sollen im Rahmen der neuen Kraftwerksstrategie kurzfristig auch neue Kraftwerkskapazitäten im Umfang von bis zu 4 mal 2,5 GW als H2-ready Gaskraftwerke ausgeschrieben werden.

Stimmung hat sich weiter eingetrübt

Mit Investitionen in der Größenordnung um 4,6 Milliarden Euro (2022) ist auch die Lebensmittelindustrie eine wichtige Zielgruppe des Maschinen– und Anlagenbaus. Branchenprimus GEA vermeldete hier zuletzt (Q1-24) ein leichtes Wachstum, über alle Geschäftsbereiche verzeichnete der Anlagenbauer zuletzt allerdings ein Minus von 13,6 Prozent im Auftragseingang. Wettbewerber Andritz klagte im ersten Quartal sogar über 19 % niedrigere Bestellungen als im Vorjahr und rechnet aktuell nicht mit einer raschen Erholung.

Und so bleibt schließlich die Frage, wie die Rekordzahlen und -erwartungen des Großanlagenbaus zu bewerten sind. Jürgen Nowicki, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau lieferte die Erklärung in der Pressekonferenz im April gleich mit: „Das Inlandsgeschäft wird massiv durch Subventionen getrieben.“ Namentlich prägen hier vor allem die Projekte für grünen Stahl das Bild: Im Juli 2023 hatte die EU-Kommission Subventionen in Milliardenhöhe genehmigt und damit den Weg für den Bau der größten Direktreduktionsanlage für grünen Stahl in Deutschland frei gemacht. Und auch das gehört zu den Eigenheiten des Großanlagenbaus: Ein einzelnes Großprojekt kann darüber entscheiden, ob die Bilanz positiv oder negativ ausfällt.

Autor

Armin Scheuermann

Armin Scheuermann

Chemieingenieur und freier Fachjournalist