Einsatz von Robotern in der Pharmaindustrie: Nutzenpotenziale und aktuelle Entwicklungen
11.08.2024 Pharma Artikel

Einsatz von Robotern in der Pharmaindustrie: Nutzenpotenziale und aktuelle Entwicklungen

In der Pharmaproduktion ist oft noch Handarbeit angesagt. Doch auch hier können Roboter helfen, Effizienz und Sicherheit zu erhöhen. Wir stellen aktuelle Entwicklungen der Robotik für pharmazeutische Prozesse vor.

Roboter an einer Abfüll- und Verpackungslinie Roboter im Einsatz an einer Abfüll- und Verpackungslinie zum Gefriertrockner

Glaubt man den Stellenanzeigen, haben Arbeitgeber in der Pharmaindustrie ein klares Bild vom idealen Produktionsmitarbeiter: Kompetent, zuverlässig, sicherheits- und verantwortungsbewusst, anpassungs- und lernfähig, lösungsorientiert, präzise, effizient und körperlich belastbar soll er sein. Das Anforderungsprofil ist komplex - und in Zeiten immer komplexer werdender Prozesse bei gleichzeitigem Fachkräftemangel wird der Ruf nach Vereinfachung und Entlastung immer lauter. Dies kann durch Arbeitsteilung erreicht werden - nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Maschine. Hier schlägt die Stunde der Robotik. Denn der Kollege aus Stahl und Elektronik besitzt immer mehr der oben beschriebenen Eigenschaften eines idealen Mitarbeiters. Und mit jeder neuen Generation verschwinden mehr und mehr Nachteile der bisherigen Roboter: hohe Investitionen, komplexe Programmierung, Reinraumtauglichkeit.

Von Adam und Eva zum Synthese-Roboter

Das fängt im Labor an, wo Roboter längst repetitive und ermüdende Arbeiten übernehmen und dazu beitragen, den Entwicklungsprozess massiv zu beschleunigen. Und es beginnt unter anderem bei Adam und Eva. Die Rede ist von Laborrobotern, die der Cambridge-Professor Ross King seit fast zwei Jahrzehnten entwickelt und zu robotischen Wissenschaftlern aufrüstet. „Eve“ automatisiert den gesamten Prozess der Medikamentenentwicklung und integriert nun drei normalerweise getrennte Prozesse der frühen Medikamentenentwicklung: Screening, Hit-Konfirmation und QSAR (Quantitative Struktur-Aktivitäts-Beziehung). Diese Integration ermöglicht es Eve, Tausende von Verbindungen gegen einen bestimmten Assay zu testen und die Wirksamkeit neuer Verbindungen vorherzusagen. Der nächste Schritt für Eve ist die Fähigkeit, eigene Verbindungen für Screeningzwecke zu synthetisieren.

Diesen Ansatz verfolgt auch der Biochemiker Prof. Peter Seeberger: Mit Syntheseautomaten will Seeberger die Chemie- und Pharmaproduktion völlig neu denken. Dafür baut der Direktor für Biomolekulare Systeme am MPI Potsdam in Ostdeutschland das Großforschungszentrum „Center for the Transformation of Chemistry“ auf. „Automatisierte Systeme können uns helfen, ganz neue Stoffgruppen zu erforschen und umweltfreundlich herzustellen“, ist Seeberger überzeugt. Und weil Roboter und Automaten jeden Schritt nachvollziehbar protokollieren können, sollen die neuartigen Syntheseautomaten auch eine weltweite Produktion der Stoffe ermöglichen. Roboterbasierte Laborsynthesen sind nach Ansicht von Pharmaexperten auch der Schlüssel zu einer wirtschaftlich realisierbaren personalisierten Medizin, bei der Medikamente maßgeschneidert für einzelne Patienten hergestellt werden.

Vom Laborroboter zum Robotereinsatz in der Produktion

Schon heute werden automatisierte Laborsynthesen schließlich auch zur Keimzelle neuer Produktionsverfahren. So hat Essert Robotics mit der Advanced Robotic Workstation das Pipettieren, Mischen und Dosieren oder die Montage von Medizinprodukten wie Pen-Applikatoren oder Spritzen automatisiert. Das Unternehmen aus dem badischen Bruchsal denkt im Kleinen ganz groß: Mit dem MindFactory-Konzept hat Essert nicht nur Laboraufgaben, sondern auch Produktionsprozesse in Module zerlegt, die sich je nach Produkt kombinieren und mit Hilfe der eigenen Roboterplattform vollständig automatisieren lassen.

Die Idee dazu ist nicht neu – das Thema Modulautomation macht seit einigen Jahren in der Pharma– und Chemieindustrie die Runde. So zum Beispiel bei Merck in Darmstadt, wo die Prozessautomation mit Hilfe des Module Type Package (MTP) standardisiert und modularisiert wird. MTP ermöglicht dabei die flexible Integration und Konfiguration von Modulen verschiedener Hersteller in einem einheitlichen System. Das Ziel: Die Markteinführung neuer Produkte und optimiert die Produktionsprozesse massiv zu beschleunigen – ob mit oder ohne Roboter.

Labor und Synthese sind die eine Seite der Wertschöpfungskette im Pharmaprozess, in der zunehmend Roboter zum Einsatz kommen. Auch im Produktionsprozess setzen sich Roboter immer mehr durch. Ein Meilenstein war beispielsweise die Konstruktion von Robotern, die den hohen Anforderungen an Geräte für den Einsatz in den Reinraumklassen A bis D entsprechen. Zum einen dürfen sie keine unzulässigen Partikelmengen in den Reinraum einbringen, zum anderen müssen sie leicht zu reinigen sein - bis hin zur Sterilisation oder Desinfektion mit Wasserstoffperoxiddampf. Ganz vorne mit dabei sind Firmen wie Stäubli, Fanuc oder ABB. Die Maschinen übernehmen Aufgaben in gefährlichen Umgebungen und beim Umgang mit toxischen Wirkstoffen, für die Mitarbeiter bisher aufwändige Schutzausrüstungen tragen mussten.

robocell Füll-Verschließmaschine von Groninger mit SKAN-Isolator zur Verarbeitung von RTU-Verpackungsmaterialien robocell mit SKAN-Isolator zur Verarbeitung von RTU-Verpackungsmaterialien

Roboter für aseptische Abfüllprozesse

Mit den Robotern Stericlean und Stericlean+ verfügt Stäubli über Geräte, die für aseptische Anwendungen und den Einsatz in Isolatoren konzipiert sind. Diese werden unter anderem auch zum Be- und Entladen von Gefriertrocknern eingesetzt. Beim Anlagenbauer Glatt kommen Stäubli Roboter unter anderem in der Pharma OSD Future Factory" zum Einsatz, einer digital integrierten Containment-Pharma-Prozesslinie, die von der Dosierung bis zur Kapselfüllung reicht. In dieser Anlage kommen intelligent gesteuerte Hebezeuge und Roboter (Stäubli TX2-140) zum Einsatz.

Der Verpackungsmaschinenhersteller Groninger hat in Zusammenarbeit mit Skan eine Lösung für das vollautomatische Füllen und Verschließen von RTU-Spritzen, Fläschchen und Karpulen entwickelt. Die „robocell“ genannte Lösung erfüllt die neuesten regulatorischen Anforderungen und reduziert den menschlichen Eingriff in den aseptischen Abfüllprozess. Unter der Bezeichnung Injecta 36 hat die italienische IMA Group kürzlich ebenfalls für aseptische Prozesse ein robotergestütztes Fill-Finish-System für RTU-Spritzen vorgestellt, das In-Process-Control und Check-Weighing integriert. Die Robotic Vial Filling Machine (RVFM5) von Steriline nutzt einen Stäubli Roboter und zielt darauf ab, die Primärverpackung von Injektionspräparaten effizienter zu gestalten, indem Produktverluste minimiert werden.

Roboter-gestützter Verarbeitungsprozess für Fertigspritzen Der Cobot von Schubert-Pharma kann vorkonfektionierte Faltschachteln automatisch befüllen.

Ein neues Cobot-Modul von Schubert-Pharma zielt hingegen auf den Sekundärverpackungsprozess ab: Es ermöglicht das automatische Befüllen von vorgefertigten Faltschachteln. Das ist vor allem dann interessant, wenn Pharmazeuten einen steigenden Bedarf für ein Produkt sehen, aber noch nicht klar ist, ob sich eine vollautomatische Verpackungsmaschine lohnt. Der Cobot ist Teil des Seamless Packaging Service, den Schubert gemeinsam mit dem Faltschachtelspezialisten Faller Packaging entwickelt hat. Außerdem setzt Schubert-Pharma verschiedene Roboter in einer neuen Top-Loading-Maschinenlösung ein, um Vials in Kartons zu verpacken.

Spannend ist auch eine weitere Roboteranwendung, die 2023 mit dem RAYA-Award des Pharma-Ingenieurverbandes ISPE (Special Interest Group Robotics) ausgezeichnet wurde und die Glatt zusammen mit dem Roboter-Integrator Hof für den Pharmakonzern Bayer entwickelt hat: Das anstrengende manuelle Handling von Fässern in der Wirkstoffproduktion wurde mit einem Stäubli Roboter automatisiert. Die Besonderheit: Konventionelle Prozessanlagen werden mit Roboterarmen kombiniert - eine der ersten Anwendungen, bei der Schwerlastroboter in der Solida-Produktion zum Einsatz kommen und OEB 5-Produkte handhaben können. Der automatisierte Prozess verringert das Risiko, dass Mitarbeiter mit hochwirksamen Wirkstoffen in Kontakt kommen.

Mensch-Maschine-Zusammenarbeit

Dass sich Roboter und sogar Cobots - also Roboter, die mit Menschen zusammenarbeiten können - in der Pharmaproduktion immer mehr durchsetzen, hat mehrere Gründe. Zum einen sinken mit fortschreitender Entwicklung und steigenden Stückzahlen die Investitionskosten, zum anderen wird die Programmierung der Geräte sukzessive einfacher. Zudem werden die Einsatzmöglichkeiten durch Fortschritte in der Bildverarbeitung deutlich erweitert. Und die Integration von KI in Robotersysteme wird es langfristig ermöglichen, komplexe Aufgaben zu automatisieren und Prozesse weiter zu optimieren. Denn KI-gesteuerte Roboter werden in der Lage sein, Daten in Echtzeit zu analysieren und so die Effizienz und Qualität der Produktion zu steigern. Doch auch wenn Roboter immer mehr Aspekte der eingangs aufgezählten Anforderungen an die Beschäftigten erfüllen - das Sicherheits- und Verantwortungsbewusstsein bleibt eine Domäne des Menschen. Die Kombination von Robotik und manuellen Prozessen wird aber zweifellos in Zukunft ein wichtiger Faktor für den Erfolg und die Wettbewerbsfähigkeit der Pharmaindustrie sein.

Autor

Armin Scheuermann

Armin Scheuermann

Chemieingenieur und freier Fachjournalist