Industrie im Umbruch: Europa am Scheideweg – Studien fordern radikale Wende
04.10.2024 Automatisierung & Digitalisierung Artikel

Industrie im Umbruch: Europa am Scheideweg – Studien fordern radikale Wende

Wie steht es um den Industriestandort Europa und Deutschland? Welche Transformationen werden und müssen Industrie und Politik angehen? Antworten auf diese Frage liefern zwei aktuelle Studien von BDI und EU-Kommission. Falls Sie bislang keine Zeit hatten, die rund 600 Seiten auf die Konsequenzen für den Maschinen- und Anlagenbau abzuklopfen – Industry Insight hat die wichtigsten Erkenntnisse für Sie zusammengefasst.

Nachwuchs-Konstrukteure präsentieren am Gemeinschaftsstandort Innovation Germany ihre Entwicklung Wettbewerbsfähigkeit braucht Innovation – vor allem in Technologien, die zur nachhaltigen Energiewende beitragen – so die aktuellen Studien der EU-Kommission und des BDI.

Wir schreiben das Jahr 2030: Immer mehr Industriegebiete in Deutschland und Europa verfallen. Die verbleibende Industrie kämpft mit steigenden Produktionskosten: Fabriken verlagern ihre Produktion ins Ausland, und qualifizierte Fachkräfte sind knapp. Diese düstere Zukunft könnte schneller eintreten, als gedacht – so zeigen es die aktuellen Studien des BDI und der EU-Kommission.

In den Jahrzehnten bis 2020 war das Erfolgsrezept der deutschen Industrie denkbar einfach: billiges Erdgas und freier Zugang zu den Exportmärkten der Welt. Doch diese Zeiten sind vorbei. Gas ist teuer, der Export schwächelt: Die USA schotten sich ab, China wird für deutsche Unternehmen zunehmend schwieriger. Ein „Weiter so“ ist deshalb keine Option mehr. Die europäische und deutsche Industrie stehen an einem entscheidenden Wendepunkt. Eine umfassende Transformation ist unvermeidbar, um den Herausforderungen einer sich wandelnden globalen Wirtschaft, des Klimawandels und technischer Umbrüche zu begegnen. Besonders betroffen: die Prozessindustrien sowie der Maschinen- und Anlagenbau, zwei zentrale Säulen der deutschen Wirtschaft.

Hohe Energiekosten und wachsender Wettbewerb – Europa unter Druck

Beide Studien – die des BDI und der EU-Kommission – zeichnen ein klares Bild: Deutschlands und Europas Wettbewerbsfähigkeit schwindet. Insbesondere die hohen Energiekosten belasten energieintensive Industrien stark. Der Preisunterschied zu den USA wird immer größer, da die Gas- und Strompreise dort deutlich niedriger sind. Während die USA und China ihre Industrien mit staatlichen Förderprogrammen stärken, wie etwa dem Inflation Reduction Act, steigen die Produktionskosten für europäische Unternehmen. Die deutsche und europäische Politik hat bisher nicht ausreichend gegengesteuert – eine Lücke, die dringend geschlossen werden muss, da sind sich BDI und der Draghi-Report einig.

Messebesucher an einem Maschinen-Exponat auf der POWTECH 2023 Der Maschinen– und Anlagenbau in Deutschland sind unter hohem Transformationsdruck – so die aktuelle Studie des BDI.

Fachkräftemangel wird zur Innovationsbremse

Ein weiteres alarmierendes Ergebnis der Studien: der zunehmende Fachkräftemangel. Besonders in technologisch anspruchsvollen und digitalisierten Bereichen fehlen die Expertinnen und Experten. Ohne qualifiziertes Personal geraten notwendige Innovationsprozesse ins Stocken – ein Risiko, das die Wettbewerbsfähigkeit noch weiter unter Druck setzt.

Prozessindustrien am Scheideweg: Zwischen Krise und Neuanfang

Die Chemie-, Stahl- und Aluminiumindustrie stehen vor einem tiefgreifenden Strukturwandel. Die stark gestiegenen Energiekosten führen zu einer Erosion der Wettbewerbsfähigkeit, was bereits jetzt Produktionsverlagerungen ins Ausland zur Folge hat. Die Studien warnen eindringlich vor einer Deindustrialisierung, die den Wirtschaftsstandort Europa nachhaltig schwächen könnte. Doch es gibt auch Chancen: Die Umstellung auf CO2-neutrale Produktionsprozesse könnte die Marktposition dieser Industrien stärken – vorausgesetzt, es gibt staatliche Unterstützung. Ohne diese droht ein nachhaltiger Verlust an Produktionskapazitäten, was sowohl Deutschland als auch Europa schwächen würde.

Maschinen- und Anlagenbau: Zwischen Transformation und Tradition

Der Maschinen- und Anlagenbau, traditionell eine deutsche Kernkompetenz, sieht sich ebenfalls unter Druck. Der BDI-Bericht betont, dass die Abhängigkeit von fossilen Technologien und die langsame Umstellung auf emissionsfreie Technologien eine große Herausforderung darstellen. Die Kosten der Umstellung sind hoch, und der Fachkräftemangel verschärft die Situation zusätzlich. Gleichzeitig hebt die EU-Kommission die immense Bedeutung von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz für die Zukunft der Branche hervor. Wer jetzt nicht aufholt, riskiert, den Anschluss zu verlieren.

Expertenforum auf der POWTECH 2023 Der Fachkräftemangel wird in den beiden Studien als eine der größten Innovations– und Wachstumsbremse genannt.

Transformation zur Nachhaltigkeit als Chance

Trotz aller Herausforderungen bieten beide Studien auch positive Perspektiven. Die notwendige Transformation kann zu einem Motor für Innovationen werden, insbesondere im Bereich grüner Technologien. Die Umstellung auf klimaneutrale Produktion und die Entwicklung neuer Energietechnologien eröffnen Unternehmen in Deutschland und ganz Europa enorme Wachstumschancen. Die EU-Kommission unterstreicht, dass die Dekarbonisierung Europas Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringern und die Wettbewerbsfähigkeit stärken könnte. Der BDI sieht in Technologien wie Wasserstoffproduktion und energieeffizienten Systemen große Potenziale, um die Marktposition deutscher Unternehmen auszubauen.

Die Weichen stellen: Wie die Transformation gelingen kann

Um den Wandel erfolgreich zu meistern, sind erhebliche Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und neue Technologien notwendig. Der Ausbau von Stromnetzen, Wasserstoffinfrastrukturen und CO2-Transportkapazitäten sind unverzichtbar. Die EU-Kommission fordert zusätzlich einen harmonisierten regulatorischen Rahmen und eine stärkere Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten, um die Energiepreise zu senken und den Binnenmarkt zu stärken.

Ein zentrales Handlungsfeld ist die Bewältigung des Fachkräftemangels. Eine gezielte Fachkräfteoffensive, die Aus- und Weiterbildung sowie die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte fördert, ist entscheidend. Gleichzeitig müssen Innovationsprozesse beschleunigt werden. Staatliche Unterstützung und private Investitionen spielen hier eine Schlüsselrolle. Bürokratische Hürden müssen abgebaut und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden, um neuen Technologien Raum zu geben.

Fazit: Transformation mit historischem Potenzial

Die deutsche und europäische Industrie steht vor einer der größten Veränderungen seit der Nachkriegszeit. Die Herausforderungen sind gewaltig, aber auch die Chancen. Insbesondere die Prozessindustrien und der Maschinen- und Anlagenbau können in der globalen Klimatransformation eine führende Rolle übernehmen und neue Wachstumsfelder erschließen. Doch um diese Potenziale zu nutzen, bedarf es entschlossener Investitionen und einer engen Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Jetzt ist der Zeitpunkt, die Weichen zu stellen und den Wandel aktiv zu gestalten – für eine starke, nachhaltige und wettbewerbsfähige Industrie in Europa.

Autor

Armin Scheuermann

Armin Scheuermann

Chemieingenieur und freier Fachjournalist